Gegenwartskultur, Kultur überregional, von Nadja Bartsch, von Nadine Hoffmann, 16.03.11

Istanbul – „Avrupa Kültür Başkenti 2010“

Die Chancen und ungenutzten Möglichkeiten einer Kulturhauptstadt

Die Hagia Sophia, eine ehemalige byzantinische Kirche, zählt zu den Hauptanziehungspunkten für Besucher in Istanbul. Ein Blick ins Innere hält Überraschungen bereit. (Foto: Wiki Commons)

Istanbul, die Stadt auf zwei Kontinenten, die Stadt zwischen Orient und Okzident, eine Stadt mit einem mehr als tausendjährigem kulturellem Erbe ist heute ein Treffpunkt der Kulturen. Als letzte Metropole eines Nicht-EU-Mitgliedstaates trug Istanbul im vergangenen Jahr den Titel ‚Kulturhauptstadt Europas’. Vor 26 Jahren rief die Europäische Union die gleichnamige Initiative ins Leben, um der europäischen Öffentlichkeit kulturelle Aspekte einzelner Regionen näher zu bringen und die Vielfalt ebenso wie Gemeinsamkeiten des kulturellen Erbes in Europa hervorzuheben. Auch am Bosporus sollte der Titel Gelegenheit bieten, dem kulturellen Leben neue Vitalität zu verleihen, die Bekanntheit zu steigern und den Tourismus zu fördern. Angedacht war zudem ein Blick über den Tellerrand des populären Kulturbetriebs. Kleinere Projekte beispielsweise, die nicht zu den Hauptsehenswürdigkeiten zählen, aber dennoch von kultureller Bedeutung sind, sollen im Zuge der Initiative gefördert werden. Für sie stellt der Titel eine vielversprechende Chance da, die jedoch oft nicht genutzt wird, wie sich auch am Beispiel Istanbul retrospektiv aufzeigen lässt.

2006 wurde Istanbul – zusammen mit Peç in Ungarn und Essen und dem Ruhrgebiet in Deutschland – zur Kulturhauptstadt 2010 ernannt. Laut Agenda der ‚Kulturhauptstadt’ sollte das Projekt zeigen, dass es seit mehr als tausend Jahren eine kulturelle Interaktion zwischen Istanbul und Europa gibt. Es ging also darum, die kulturelle Bedeutung der Stadt für Europa, aber auch für die orientalische Welt hervorzuheben. Neue Museen sollten geschaffen, historische Gebäude renoviert und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Durch ein nachhaltiges Kulturmanagement beabsichtigte man das kulturelle Erbe der Stadt besser zu fördern und damit einhergehend den kulturellen Tourismus zu maximieren. Ein Konzept, das sich keinesfalls nur auf die ohnehin bekannten Sehenswürdigkeiten und Projekte der Stadt stützen sollte. Bei der Umsetzung der Agenda legte man die Schwerpunkte jedoch ganz anders.

Wer sich 2010 durch Istanbul bewegte, dem begegnete das offizielle Logo der ‚Kulturhauptstadt’ vor allem an historisch und kulturell bedeutenden Orten der Stadt. Etwa an der Kiliç Ali Pasa Moschee, der Hagia Sophia oder auch im Topkapi-Palast. Allesamt Gebäude, die zu den herausragenden Sehenswürdigkeiten der Stadt gezählt werden können und teilweise bereits auf der Weltkulturerbeliste der UNESCO verzeichnet sind.

Tatsächlich wurde im Rahmen des „Kulturjahres“ 2010 in Istanbul emsig restauriert und gebaut. Besonders auffallend zeigte sich das bei populären Bauten wie der Hagia Sophia. Die ehemalige byzantinische Kirche, die in ottomanischer Zeit zur Moschee umfunktioniert wurde, ist heute in ihrer Funktion als Museum ein Hauptanziehungspunkt für Besucher der Metropole am Bosporus. Ein entsprechend großes Budget wurde für Renovierungsarbeiten und Bautätigkeiten aufgewendet. Die hinter Bauabsperrungen und auf Gerüsten durchgeführten Arbeiten innerhalb des Gebäudes dürften zwar nachhaltig zu dessen Benutzerfreundlichkeit und Wirkung beigetragen haben, dämpften jedoch für tausende von Touristen den imposanten Eindruck der lange Zeit größten Kirche der Welt. Da diese Attraktion zudem durch Schautafeln und Audioguides bereits touristisch gut erschlossen war, erscheinen solche Maßnahmen besonders im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres 2010 eher überflüssig.

Weniger populäre, aber aus kulturhistorischer Sicht wichtige Bauten, blieben hingegen auch 2010 im Hintergrund. So etwa die Theodosianische Landmauer, im 5. Jahrhundert unter der Herrschaft Kaiser Theodosius’ II. erbaut und auch heute noch in großen Teilen erhalten. Über 1000 Jahre lang schützte sie die Stadt durch ihre raffinierte Konstruktion vor feindlichen Übergriffen durch hunnische, islamische und christliche Heere. Erst Mehmed II. überwand die drei stufenförmig hintereinander angelegten Mauern mit vorgelagertem Graben im Jahre 1453 mit Hilfe neuer großer Kanonen. Das lange Zeit uneinnehmbare Verteidigungssystem ist eines der erfolgreichsten in der Geschichte und leistete einen wesentlichen Beitrag zum Aufstieg Konstantinopels, einer Stadt deren Einfluss sich auf Orient und Okzident gleichermaßen erstreckte.

Heute rottet das vormals stolze Bauwerk langsam aber unaufhaltsam vor sich hin, ein Schicksal, das viele weniger bekannte Kulturdenkmäler in Istanbul und der ganzen Türkei teilen. Im einst unüberwindbaren Graben findet heute an zahlreichen Stellen Gemüseanbau statt, andere Abschnitte werden als wilde Müllhalden genutzt. Zwar wurden vor wenigen Jahren an einzelnen Stellen Rekonstruktionen durchgeführt, Fachleuten stufen diese jedoch als unsachgemäß ein. Eine touristische Aufbereitung fand zu keiner Zeit statt, Schau- oder Informationstafeln sucht man vergebens. Generell verschlägt es Besucher nur selten hierher, von Reiseunternehmen wird das Monument nicht angefahren, eine Wanderung entlang der Stadtmauern führt teils durch zwielichtige Gebiete. Hier besteht noch enormes Entwicklungspotenzial.

Statt Geld in ohnehin bekannte und populäre Attraktionen zu pumpen, wäre es gerade im Rahmen der „Kulturhauptstadt 2010“ wünschenswert gewesen, auch unbekannte, aber nicht weniger imposante und bedeutungsvolle Objekte wie die Stadtmauern zu fördern. Eine solche Investition könnte nicht nur unschätzbare Quellen für die Wissenschaft erhalten, sondern auch die Möglichkeit bieten, Besuchern ein weiteres Stück Geschichte näher zu bringen. Abgesehen vom touristischen und damit auch wirtschaftlichen Potenzial solcher Bauten, wird mit jedem bröckelnden Stein auch ein Teil der ursprünglichen Identität der Stadt zum Opfer der Zeit. Die Initiative der Europäischen Union bietet hier wertvolle Chancen, die von zukünftigen Titelträgern besser genutzt werden sollten, als dies in Istanbul der Fall war.

Die Hagia Sophia, eine ehemalige byzantinische Kirche, zählt zu den Hauptanziehungspunkten für Besucher in Istanbul. Ein Blick ins Innere hält Überraschungen bereit. (Foto: Wiki Commons)

Seit inzwischen 16 Jahren wird hier gebaut und gleichzeitig der Blick verstellt. Der stellvertretende türkische Premierminister versprach bis zum Beginn des Kulturhauptstadtjahres 2010 Abhilfe zu schaffen. Etwas vorschnell wie sich zeigte. (Foto: Nadja Bartsch)

Denn auch 2010 dominierte ein tonnenschweres Stahlungetüm die Innenansicht. Ein solches Engagement hätte man sich lieber an anderen Orten der Kulturhauptstadt gewünscht. (Foto: Nadja Bartsch)

Die Theodosianischen Mauer aus dem 5. Jahrhundert. Zwischen den Resten eines der erfolgreichsten Verteidigungssysteme der Geschichte wird heute Gemüse angebaut oder illegal Müll abgeladen. Ein Schicksal, das viele weniger bekannte Kulturdenkmäler in Istanbul und der ganzen Türkei teilen. (Foto: Nadja Bartsch)

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