Im vergangenen Jahr durfte sich sowohl die Stadt Essen als auch Istanbul mit dem Titel ‚Europäische Kulturhauptstadt 2010’ schmücken. Zwei Städte, die unterschiedlicher nicht sein können: Essen, die Stadt im Herzen des Ruhrgebiets, im Krieg zerstört und heute ein Beispiel für deutsche Nachkriegsarchitektur. Eine Stadt, geprägt von der industriellen Schwerindustrie, von Kohle und Stahl, von Zechen und Montagehallen. Istanbul dagegen zählt zu einer der geschichtsträchtigsten Städte der Welt. Sie verbindet Orient und Okzident, der Bosporus und das Goldene Horn bestimmen das Stadtbild ebenso wie die mehr als hundert Sehenswürdigkeiten. Eine Stadt der Moscheen und Paläste, der Basare und Museen – eine Stadt der Gegensätze.
Beide Städte trugen im vergangenen Jahr das Prädikat ‚Europäische Kulturhauptstadt’, das den Reichtum und die Vielfalt der Kulturen Europas hervorheben soll. Menschen verschiedener Länder sollen mit anderen Kulturen in Kontakt gebracht werden, um gegenseitiges Verständnis zu fördern. Für die Umsetzung der Intention einer Kulturhauptstadt erarbeiteten die Städte Konzepte und Programme, die zum einen die kulturelle Vielfalt der jeweiligen Stadt darstellen, zum anderen aber auch kulturelle Besonderheiten hervorheben sollten.
Essen – die Stadt, die zum ersten Mal stellvertretend für eine ganze Region den Titel trug – verdeutlichte schon mit ihren Slogans die Ziele der Veranstaltung: „Kultur durch Wandel“ oder „Hier wird neue Energie gefördert. Sie heißt Kultur“. Unmissverständlich wurde sich auf das industrielle Erbe, dessen Bedeutung und die dazugehörigen Probleme bezogen. Kultur durch Wandel – der Versuch, eine ehemalig ‚graue’ Region durch Kultur wieder zum Blühen zu bringen. Ausgehend von ihrem Mythos nimmt eine Region neue Gestalt an.
Auch Istanbul – die als letzte Stadt eines Nicht-EU-Mitgliedstaates den Titel tragen durfte – betonte seine Vorzüge. Das Konzept orientierte sich dabei an den vier Elementen des Universums, die symbolisch für die unterschiedlichen Veranstaltungstypen standen: Die Erde als Synonym für Tradition und Transformation, die Luft für die Zusammenführung lokaler und ausländischer Musiker, das Wasser als Symbol für Veranstaltungen auf dem Bosporus und Feuer symbolisierte Projekte aus dem Bereich der Modernen Kunst und Events, die ein großes Publikum erreichen sollten. Die kulturelle Vielfalt der Stadt und ihrer Verbindung zwischen zwei Welten sollte zum Ausdruck kommen.
Konzepte, die eine Vielzahl von Möglichkeiten boten um die kulturelle Botschaft der Städte im jeweiligen Land sowie über die Landesgrenzen hinweg zu präsentieren. Doch bei der Umsetzung zeigte sich ein unterschiedliches Verständnis des Titels ‚Kulturhauptstadt’.
Ganz im Sinne der Agenda fanden in Essen und im gesamten Ruhrgebiet Veranstaltungen und Aktionen der Programmfelder Bilder, Theater, Musik, Sprache, Kreativwirtschaft und Feste statt. Auf diese Weise sollte eine Geschichte vom Wandel erzählt werden, den eine Metropole vollzieht, um Europa schließlich mit Kunst und Kultur in Bewegung zu bringen. So gab das Projekt „Local Hero“ jeder Stadt im Ruhrgebiet die Möglichkeit sich zu präsentieren und auf sich aufmerksam zu machen. „Europa in Shorts“ verband in einer Online-Kurzfilmausstellung das Ruhrgebiet mit Europa, indem Beiträge aus über 30 europäischen Ländern gezeigt wurden. Bei „Still-Leben Ruhrschnellweg – eine 60 Kilometer lange Tafel der Kulturen“ wurde aus der Hauptverkehrsader der Region eine Begegnungsstätte der Kulturen, Generationen und Nationen. Drei Beispiele, die exemplarisch für die Umsetzung, Gestaltung und Interpretation des Titel ‚Kulturhauptstadt’ im Ruhrgebiet stehen.
Ganz anders Istanbul. Von der Agenda der vier Elemente des Universums abweichend lag die Projektumsetzung in drei Schwerpunkten: Kunst und Kultur, urbane Projekte und Kulturerbe sowie Tourismus. Über 600 Projekte standen unter der Leitidee die Einzigartigkeit Istanbuls herauszuarbeiten, Kulturerbe zu restaurieren und zu sichern, die Mitwirkungsmöglichkeiten in Kunst und Kultur zu verbessern. Durch Kunst und Kultur sollte für Istanbul geworben und so der kulturelle Tourismus gefördert werden. Die Veranstaltungen reichten von Eröffnung neuer Museen wie dem ‚Prince Island Museum’ als erstes Stadtmuseum, über Ausstellungen und Projekte zu klassischer türkischer Kunst – beispielsweise die Ausstellung ‚Sultans Poetry’ oder das Projekt ‚Traditional Turkish Book Arts: Masters of Today’ – bis zu Projekten der Bereiche Theater, Moderne Kunst und Visual Art. Die Hauptmaßnahmen der Veranstalter lagen jedoch in der Restaurierung und Sicherung von Kulturerbe und anderen historischen Bauten und Kulturgütern. Mehr als 2/3 der 600 Vorhaben fielen in den Bereich Kulturerbe und urbane Projekte. Die Priorität der Veranstalter lag in der Vollendung der Kulturerbeprojekte. Darunter gehörten unter anderem Restaurierungsarbeiten an der Hagia Sophia, dem wohl bekanntesten Bauwerk der Stadt.
Natürlich können die genannten Beispiele nur exemplarisch für eine ganze Reihe unterschiedlicher Veranstaltungen und Projekte sowohl im Ruhrgebiet als auch in Istanbul stehen. Sie verdeutlichen jedoch das durchaus konträre Verständnis des Prädikates „Europäische Kulturhauptstadt“. Essen und das Ruhrgebiet machten mit vielen kleinen sowie großen Aktionen und Veranstaltungen, sowohl in den klassischen Künsten wie Museum oder Musik, als auch mit außergewöhnlichen Events wie der Sperrung der A40 von sich Reden. Das Ruhrgebiet konnte so innerhalb Deutschlands aber auch in Europa als ‚Kulturlandschaft’ präsentiert werden. Istanbul dagegen nutzte den Titel um Sehenswürdigkeiten der Stadt zu restaurieren und Kulturerbe zu sichern. Außergewöhnliche Veranstaltung traten dabei in den Hintergrund.
Divergenter kann das Verständnis eines Titels nicht sein. Es zeigt aber auch, wie viel Speilraum ein solches Prädikat zulässt und vor allem, wie konträr die Auffassungen diesbezüglich in Europa sind. Europa, eine Vielfalt an Kulturen und kulturellem Verständnis.
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