Seit Mitte der 1970er Jahre sind Menschen mit Migrationshintergrund in allen Bereichen der Gesellschaft präsent. Auch aus der sozialwissenschaftlichen Forschung sind bereits zahlreiche Studien über Migranten hervorgegangen. Mit einem bisher wenig beachteten Aspekt der Migrationsforschung beschäftigt sich Dr. Marc Thielen. Der Dozent der Goethe Universität in Frankfurt am Main forscht zum Thema „Homo- und Bisexuelle muslimische Männer“.
„Im Iran ist das Schwulsein gleich mit Tucke oder Travestie“, sagt Hassan, ein 48-jährigem Immigrant mit iranischen Wurzeln. Er ist einer von zahlreichen Iranern, die Thielen für seine Forschungen befragt hat. Die Interviews geben einen Eindruck darüber, wie schwierig es ist, in einem patriarchisch, muslimisch-männlich geprägten Umfeld als Mann die eigene Homosexualität zu entdecken und auszuleben. Auf Homosexualität steht im Iran noch immer die Todesstrafe. Sie wird als „irreversible Prägung“ innerhalb der sexuellen Identität wahrgenommen und sozusagen als ‚Entartung’ angesehen. In Deutschland wird sie daher sogar offiziell als asylrelevantes Persönlichkeitsmerkmal anerkannt. Durch das starre und rückständige Konzept von (männlicher) Sexualität und die drohenden Konsequenzen bei Nichteinhaltung der „Regeln“ kommt es vor, dass manche Männer, so lange sie in ihrem Herkunftsland leben, ihre Homosexualität nicht einmal selber wahrhaben wollen. So berichtet der 29-jährige Said davon, wie er bereits im Iran „intensive Männerfreundschaften“ pflegte, aber sich erst in Deutschland seiner Liebe und Zuneigung anderen Männern gegenüber bewusst wurde. Said ist im Iran verheiratet, hat eine Tochter, ist eigenen Angaben zufolge auch weiterhin in seine Frau, die im Iran geblieben ist, verliebt. Auf die Frage, wie er beides miteinander vereinbaren kann, versucht er die Bedeutung der Entdeckung seiner Homosexualität auf ein „normales vorübergehendes Entwicklungsphänomen“ herunterzustufen.
Viele der befragten Migranten finden sich daher im kategorisierenden und mit Stereotypen spielenden europäischen Homo/Bi-Konzept nicht wieder. Sie lehnen sogenannte „schwule Karrieren“ und das stereotype, allzu oft von Deutschen aufgestülpte Image des „sensiblen, weiblichen Exoten“ ab und wollen sich alle sexuellen Orientierungsmöglichkeiten offen halten. Dieses reflektierende, selbstbewusste Vorgehen und der Mut zur Auslebung der Homosexualität ist jedoch stark an das soziale Milieu gebunden; bei höheren Bildungsschichten innerhalb der Migrantengesellschaft ist die Akzeptanz deutlich höher. Verständlicherweise, denn über Bücher und Studium – viele Iraner kamen als Austauschstudenten nach Deutschland und sind geblieben – wächst das Verständnis für sich und seine Umgebung; die Wahrnehmung der eigenen Andersartigkeit kann sich in einem weltoffenen, vorwärtsgewandten Milieu positiv entwickeln. Außerdem tragen transnationale soziale (Internet-)Netzwerke dazu bei, dass das Kontakteknüpfen und -halten mit Gleichgesinnten immer einfacher wird.
Abschließend lässt sich feststellen, dass wir alle – ob nun rein deutsch oder mit Migrationshintergrund – an der „Rollenbildbastelei“ beteiligt sind und mitverantwortlich dafür sind, wie erfolgreich sich Minderheiten wie die „fremden Männer“ in unsere Gesellschaft integrieren können. Zu leicht reduziert die deutsche Mehrheitsgesellschaft muslimische Männer auf das traditionelle Bild „dominanter, patriarchischer Macho“. Dies hat sicherlich einen wahren Kern, doch wir sollten uns darüber klar werden, dass durch derartiges Schubladendenken Minderheiten außer Acht gelassen werden, deren freie Meinungsäußerung und -ausübung unter diesem „Übereinenkammscheren“ zu leiden haben.
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