Wegwerfen, oder doch lieber behalten? Diese Frage hat sich jeder schon einmal gestellt, der seine Wohnung entrümpeln wollte. In Zeiten von Ikea, Massenproduktion und wachsender Mobilität kann Altes und Gebrauchtes schnell und bequem durch etwas Neues und Moderneres ausgetauscht werden. Wie man noch einige Jahre zuvor eingerichtet war interessiert in Zukunft niemanden, und man selbst kann sich ja schließlich an alles erinnern. Oder etwa nicht?
Folgende Aufgabe: Zeichnen Sie eine möglichst genaue Skizze des Kinderzimmers, das Sie im Alter von acht Jahren bewohnt haben. An einiges mag man sich noch lebhaft erinnern. Das Lieblingsspielzeug etwa oder die Position von Bett, Tür und Fenster. Andere Details aber wie zum Beispiel die Farbe des Teppichbodens – war da eigentlich Teppich, oder doch Laminat – das Muster der Tapeten oder der Inhalt von Schränken lassen sich nur schwer ins Gedächtnis rufen.
Ähnlich erging es einer Gruppe von Studierenden der Universität Paderborn, die sich dieser Aufgabe im Wintersemester 2009/2010 im Rahmen eines Seminars stellen mussten. Plötzlich wurden sich die Teilnehmer dessen bewusst, dass man sich eben doch nicht an alles erinnern kann. Mit diesem kleinen Experiment versuchten Seminarleiter Dr. Jan Carstensen und Angela Steinhardt vom LWL-Freilichtmuseum Detmold Sinn und Notwendigkeit der Dokumentation von Gegenwartskultur zu verdeutlichen, die jedoch keinesfalls nur als Stütze subjektiver Erinnerungen dient. Als Beispiel nannte Carstensen die gängigen Vorstellungen von Wohnungseinrichtungen der 1950er Jahre. Viele Menschen gehen automatisch davon aus, dass in den Wohnungen dieser Zeit durchweg Cocktailsessel und Nierentische vorzufinden waren. Die Realität sah allerdings ganz anders aus, denn das Durchschnittswohnzimmer der 50er sei vielmehr mit gebrauchten Möbeln aus den vergangenen Jahrzehnten eingerichtet gewesen. Ins kollektive Gedächtnis haben sich jedoch überwiegend Klischees und Katalogbilder eingeprägt. Ähnliche Schwierigkeiten sind vorstellbar, wenn man in 50 Jahren versuchen würde, heutige Wohnwelten anhand von IKEA-Katalogen zu rekonstruieren. Daher ist der Erhalt eines Stücks Gegenwartskultur – wie eben einer Zimmereinrichtung – durchaus sinnvoll.
Wie eine solche Dokumentation aussehen kann, zeigte die Sonderausstellung ZimmerWelten – wie junge Menschen heute wohnen, die vor zehn Jahren in Detmold realisiert wurde. Damals konnten die Besucher des Museums sechs komplett eingerichtete Zimmer junger Menschen betrachten, die ihren damaligen Besitzern zunächst abgekauft, dokumentiert, dann abgebaut und schließlich nach Detmold gebracht wurden. Hier wurden sie für die Ausstellung wieder aufgebaut und als Dokumente der Gegenwartskultur einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Noch heute befinden sich die Zimmer im Magazin des Freilichtmuseums und könnten, erneut aufgebaut, jederzeit einen authentischen Blick in die Vergangenheit ermöglichen.
Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des vielbeachteten Sammlungs-und Ausstellungsprojekts bot eine Kooperation zwischen dem Lehrstuhl für Materielles und Immaterielles Kulturerbe UNESCO und der Leitung des LWL-Freilichtmuseums Detmold die Möglichkeit, im Rahmen eines Seminars aktiv an der Neuauflage ZimmerWelten_zwei mitzuarbeiten. Die Studierenden hatte den Auftrag, fünf Hauptwohnräume befreundeter Personen komplett zu dokumentieren, um so einige Wohnbeispiele aus dem Jahr 2010 virtuell für die Nachwelt zu erhalten.
Entgegen erster Befürchtungen der Studierenden, fanden sich rasch freiwillige Probanden für das Projekt. Die Frage, wie man konkret an die zu dokumentierenden Zimmer herangehen sollte, erwies sich hingegen als schwieriger.
Zunächst galt es einen Fragebogen zu entwickeln, durch den die Probanden charakterisiert werden sollten. Gefragt wurde unter anderem nach Alter, Ausbildung/Studium, Tagesablauf und den eigenen Zukunftsvorstellungen („wo siehst du dich in zehn Jahren“). Bei drei der fünf Räume handelte es sich um WG-Zimmer, die von Studierenden bewohnt wurden. Nummer vier war die Wohnküche einer pharmazeutisch-technischen Assistentin. Zimmer nummer fünf, mit Abstand am außergewöhnlichsten, wurde von der Schwester einer Seminarteilnehmerin bewohnt, und befand sich in einer betreuten Wohngruppe für behinderte Jugendliche. Weitere Fragen sollten den Probanden Details zu ihren Lieblingsgegenständen und deren Geschichte entlocken. Auf diese Weise wurde ein erstes Profil des Zimmers und des Bewohners erstellt.
Anschließend wurden Grundriss des Zimmers und Position der Möbel auf Milimeterpapier genauestens notiert und der Raum fotografisch erfasst. Als letzter und aufwändigster Arbeitsschritt blieb nun noch die genaue Dokumentation der Einrichtung übrig. Jeder einzelne Gegenstand wurde in eine Liste aufgenommen, wobei er nicht nur beschrieben, sondern auch seine Position im Raum exakt festgehalten wurde.
Die Zeitlosigkeit der Dokumentation spielte hier eine entscheidende Rolle. So sollten Digitalfotos und moderne Speichermedien nach Möglichkeit nicht die einzige Dokumentationsform sein. Papier ist nicht nur geduldig, es hat auch eine höhere Lebenserwartung als eine CD oder DVD. Vieles, was für uns heute selbstverständlich ist, kann morgen schon antiquiert und umständlich zu handhaben sein. Dieses Problem fiel im Seminarverlauf schon früh ins Auge, denn die Vorführung einer vor zehn Jahren auf VHS aufgenommenen Dokumentation zu studentischem Wohnen in Münster wäre beinahe gescheitert. Der einzige noch vorhandene Videorekorder war etwas in die Jahre gekommen und begleitete den kompletten Film mit einem penetranten Quietschen.
Bis hierhin unterschied sich die Arbeit der Studierenden im Wesentlichen nicht von der Vorgehensweise der Museumsmitarbeiter zehn Jahre zuvor. Allerdings sollten die Bewohner ihre Einrichtungen dieses Mal behalten, und so endete die Arbeit des Seminars mit der Präsentation der unterschiedlichen Zimmer. Die fünf Dokumentationen wurden schließlich in das Archiv des LWL-Freilichtmuseums Detmold verbracht. Dort werden sie aufbewahrt und können in Zukunft einen kleinen Einblick in die Lebensräume junger Erwachsener im Jahr 2010 gewähren.
Für die Studierenden war dieses Seminar eine einmalige Gelegenheit, weil es die Möglichkeit bot, aktiv außerhalb der Universität zu arbeiten und zusätzlich noch ein Dokument der Gegenwartskultur für die Zukunft erstellen und konservieren zu können. Durch die Anleitung von Dr. Carstensen und Frau Steinhardt sowie das eigenverantwortliche Arbeiten konnte ein grundlegender Einblick in den Arbeitsalltag und die Herausforderungen eines kulturhistorischen Museums gewonnen werden.
Zeitgleich zum Seminarprojekt hat das Freilichtmuseum Detmold die Zimmerstifter aus dem Jahr 2000 erneut besucht um in Interviews und Fotoserien ihr heutiges Leben zu dokumentieren. Seit dem 29. Mai 2010 ist die daraus entstandene Fotoausstellung ZimmerWelten_zwei – Wie junge Menschen 2000 und 2010 wohnen im Eingangsbereich des LWL-Freilichtmuseums Detmold in einem eigens entworfenen Zelt zu besichtigen. Hier werden die Stifter von damals wieder mit ihren alten Kinder-und Jugendzimmern vereint: Die Räume aus dem Jahr 2000 sind den aktuellen Wohnräumen fotografisch gegenübergestellt. In einem begleitend erschienenen Ausstellungsband finden sich neben Fotos und Interviews der ursprünglichen Probanden auch die von den Studierenden im Seminar dokumentierten Räume. Vielleicht werden auch diese in zehn Jahren erneut unter die Lupe genommen und im direkten Vergleich mit ihren modernen Nachfolgern schon fast als „Antiquitäten“ empfunden.
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