Gegenwartskultur, von Philipp Wiegers, 16.08.10

Ein bisschen Unsterblichkeit

Ausstellung zur jungen Wohnkultur im LWL-Freilichtmuseum Detmold

Zur Dokumentation der Wohnräume gehörte auch die Grundrißzeichnung auf Milimeterpapier.

Wegwerfen, oder doch lieber behalten? Diese Frage hat sich jeder schon einmal gestellt, der seine Wohnung entrümpeln wollte. In Zeiten von Ikea, Massenproduktion und wachsender Mobilität kann Altes und Gebrauchtes schnell und bequem durch etwas Neues und Moderneres ausgetauscht werden. Wie man noch einige Jahre zuvor eingerichtet war interessiert in Zukunft niemanden, und man selbst kann sich ja schließlich an alles erinnern. Oder etwa nicht?

Folgende Aufgabe: Zeich­nen Sie eine möglichst ge­naue Skizze des Kinderzim­mers, das Sie im Alter von acht Jahren bewohnt haben. An einiges mag man sich noch lebhaft erinnern. Das Lieblingsspielzeug etwa oder die Position von Bett, Tür und Fenster. Andere Details aber wie zum Beispiel die Farbe des Teppich­bodens – war da eigentlich Teppich, oder doch Laminat – das Muster der Tapeten oder der Inhalt von Schrän­ken lassen sich nur schwer ins Ge­dächtnis rufen.

Ähnlich erging es einer Gruppe von Studierenden der Universität Paderborn, die sich dieser Aufga­be im Wintersemester 2009/2010 im Rahmen eines Seminars stellen mussten. Plötzlich wurden sich die Teilnehmer dessen bewusst, dass man sich eben doch nicht an alles erinnern kann. Mit diesem kleinen Experiment versuchten Seminarlei­ter Dr. Jan Carstensen und Angela Steinhardt vom LWL-Freilichtmu­seum Detmold Sinn und Notwen­digkeit der Dokumentation von Ge­genwartskultur zu verdeutlichen, die jedoch keinesfalls nur als Stüt­ze subjektiver Erinnerungen dient. Als Beispiel nannte Carstensen die gängigen Vorstellungen von Woh­nungseinrichtungen der 1950er Jahre. Viele Menschen gehen au­tomatisch davon aus, dass in den Wohnungen dieser Zeit durchweg Cocktailsessel und Nierentische vorzufinden waren. Die Realität sah allerdings ganz anders aus, denn das Durchschnittswohnzimmer der 50er sei vielmehr mit gebrauchten Möbeln aus den vergangenen Jahr­zehnten eingerichtet gewesen. Ins kollektive Gedächtnis haben sich jedoch überwiegend Klischees und Katalogbilder eingeprägt. Ähnliche Schwierigkeiten sind vorstellbar, wenn man in 50 Jahren versuchen würde, heutige Wohnwelten anhand von IKEA-Katalogen zu rekonstru­ieren. Daher ist der Erhalt eines Stücks Gegenwartskultur – wie eben einer Zimmereinrichtung – durchaus sinnvoll.

Wie eine solche Dokumentation aussehen kann, zeigte die Sonder­ausstellung ZimmerWelten – wie jun­ge Menschen heute wohnen, die vor zehn Jahren in Detmold realisiert wurde. Damals konnten die Besu­cher des Museums sechs komplett eingerichtete Zimmer junger Men­schen betrachten, die ihren dama­ligen Besitzern zunächst abgekauft, dokumentiert, dann abgebaut und schließlich nach Detmold gebracht wurden. Hier wurden sie für die Ausstellung wieder aufgebaut und als Dokumente der Gegenwartskul­tur einer breiten Öffentlichkeit zu­gänglich gemacht. Noch heute be­finden sich die Zimmer im Magazin des Freilichtmuseums und könnten, erneut aufgebaut, jederzeit einen authentischen Blick in die Vergan­genheit ermöglichen.

Anlässlich des zehnjährigen Ju­biläums des vielbeachteten Samm­lungs-und Ausstellungsprojekts bot eine Kooperation zwischen dem Lehrstuhl für Materielles und Immaterielles Kulturerbe UNESCO und der Leitung des LWL-Freilicht­museums Detmold die Möglichkeit, im Rahmen eines Seminars aktiv an der Neuauflage ZimmerWelten_zwei mitzuarbeiten. Die Studierenden hatte den Auftrag, fünf Hauptwohn­räume befreundeter Personen komplett zu dokumentieren, um so einige Wohnbeispiele aus dem Jahr 2010 virtuell für die Nachwelt zu erhalten.

Entgegen erster Befürchtungen der Studierenden, fanden sich rasch freiwillige Probanden für das Pro­jekt. Die Frage, wie man konkret an die zu dokumentierenden Zimmer herangehen sollte, erwies sich hin­gegen als schwieriger.

Zunächst galt es einen Fra­gebogen zu entwickeln, durch den die Probanden charakte­risiert werden sollten. Gefragt wurde unter anderem nach Alter, Ausbildung/Studium, Tagesablauf und den eige­nen Zukunftsvorstellungen („wo siehst du dich in zehn Jahren“). Bei drei der fünf Räume handelte es sich um WG-Zimmer, die von Studierenden bewohnt wurden. Nummer vier war die Wohnküche einer pharma­zeutisch-technischen Assistentin. Zimmer nummer fünf, mit Abstand am außergewöhnlichsten, wurde von der Schwester einer Seminar­teilnehmerin bewohnt, und befand sich in einer betreuten Wohngrup­pe für behinderte Jugendliche. Wei­tere Fragen sollten den Probanden Details zu ihren Lieblingsgegen­ständen und deren Geschichte ent­locken. Auf diese Weise wurde ein erstes Profil des Zimmers und des Bewohners erstellt.

Anschließend wurden Grundriss des Zimmers und Position der Mö­bel auf Milimeterpapier genauestens notiert und der Raum fotogra­fisch erfasst. Als letzter und auf­wändigster Arbeitsschritt blieb nun noch die genaue Dokumentation der Einrichtung übrig. Jeder einzel­ne Gegenstand wurde in eine Liste aufgenommen, wobei er nicht nur beschrieben, sondern auch seine Position im Raum exakt festgehal­ten wurde.

Die Zeitlosigkeit der Dokumen­tation spielte hier eine entschei­dende Rolle. So sollten Digitalfotos und moderne Speichermedien nach Möglichkeit nicht die einzige Do­kumentationsform sein. Papier ist nicht nur geduldig, es hat auch eine höhere Lebenserwartung als eine CD oder DVD. Vieles, was für uns heute selbstverständlich ist, kann morgen schon antiquiert und um­ständlich zu handhaben sein. Die­ses Problem fiel im Seminarverlauf schon früh ins Auge, denn die Vor­führung einer vor zehn Jahren auf VHS aufgenommenen Dokumenta­tion zu studentischem Wohnen in Münster wäre beinahe geschei­tert. Der einzige noch vorhande­ne Videorekorder war etwas in die Jahre gekommen und beglei­tete den kompletten Film mit ei­nem penetranten Quietschen.

Bis hierhin unterschied sich die Arbeit der Studierenden im Wesentlichen nicht von der Vor­gehensweise der Museumsmit­arbeiter zehn Jahre zuvor. Aller­dings sollten die Bewohner ihre Einrichtungen dieses Mal behal­ten, und so endete die Arbeit des Seminars mit der Präsentation der unterschiedlichen Zimmer. Die fünf Dokumentationen wur­den schließlich in das Archiv des LWL-Freilichtmuseums Detmold verbracht. Dort werden sie aufbe­wahrt und können in Zukunft einen kleinen Einblick in die Lebensräu­me junger Erwachsener im Jahr 2010 gewähren.

Für die Studierenden war dieses Seminar eine einmalige Gelegen­heit, weil es die Möglichkeit bot, aktiv außerhalb der Universität zu arbeiten und zusätzlich noch ein Dokument der Gegenwartskultur für die Zukunft erstellen und kon­servieren zu können. Durch die Anleitung von Dr. Carstensen und Frau Steinhardt sowie das eigen­verantwortliche Arbeiten konnte ein grundlegender Einblick in den Arbeitsalltag und die Herausfor­derungen eines kulturhistorischen Museums gewonnen werden.

Zeitgleich zum Seminarprojekt hat das Freilichtmuseum Detmold die Zimmerstifter aus dem Jahr 2000 erneut besucht um in Interviews und Fotoserien ihr heutiges Leben zu dokumentieren. Seit dem 29. Mai 2010 ist die daraus entstandene Fo­toausstellung ZimmerWelten_zwei – Wie junge Menschen 2000 und 2010 wohnen im Eingangsbereich des LWL-Freilichtmuseums Detmold in einem eigens entworfenen Zelt zu besichtigen. Hier werden die Stifter von damals wieder mit ihren alten Kinder-und Jugendzimmern ver­eint: Die Räume aus dem Jahr 2000 sind den aktuellen Wohnräumen fotografisch gegenübergestellt. In einem begleitend erschienenen Ausstellungsband finden sich ne­ben Fotos und Interviews der ur­sprünglichen Probanden auch die von den Studierenden im Seminar dokumentierten Räume. Vielleicht werden auch diese in zehn Jahren erneut unter die Lupe genommen und im direkten Vergleich mit ihren modernen Nachfolgern schon fast als „Antiquitäten“ empfunden.

 

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