Zeitgeschichte, Kultur Regional, Erinnerungskultur, von Ramona Bechauf, von Moritz Schäfer, 20.07.11

Aus Zahlen werden Namen, aus Akten werden Menschen

Wanderausstellung erinnert an nationalsozialistisches Unrecht in Westfalen

Das Fotoalbum der Schwestern Emma und Helene Terhoch aus Drensteinfurt hat eine Nachbarin an sich genommen, als man die beiden Jüdinnen nach Riga deportierte. Aus Angst vor einer Hausdurchsuchung vernichtete sie den Inhalt und bewahrte lediglich den Umschlag auf. (Foto: Moritz Schäfer)

Im Dezember 1941 ist die Tötungsmaschinerie der deutschen Nationalsozialisten in vollem Gange. Auch Emma und Helene Terhoch, die der jüdischen Gemeinde in Drensteinfurt angehören, ahnen scheinbar, dass sie einen der Transporte ins Ungewisse besteigen werden. Kurz vor ihrer Deportation, die sie nicht überleben werden, übergeben sie ihrer Nachbarin ein Fotoalbum und ein paar Bücher. Vielleicht in Hoffnung auf die Rückkehr, vielleicht in Angst, vergessen zu werden. Heute können wir darüber nur noch mutmaßen. Doch auch die Nachbarin gerät – aus politischen Gründen – in den Focus der Nationalsozialisten. In Furcht vor einer Hausdurchsuchung verbrennt sie alle Fotos der Terhochs und auch die Bücher, in denen der Name der Schwestern vermerkt ist. Zeugnisse zweier Leben verbrennen, übrig bleibt nur der leere Umschlag des Fotoalbums.

Heute ist dieser Umschlag eines jener „Fundstücke“ in der Wanderausstellung „Verwischte Spuren“. Basierend auf den Sammlungen westfälischer NS-Gedenkstätten und bürgerschaftlichen Initiativen präsentiert sie Biografien von Männern und Frauen, die an den Orten des Gedenkens erforscht und vermittelt werden. „Diese Biografien sind in der Region und an den Orten von Leiden und Gewalt verankert. Ihre individuellen Schicksale fordern auf nachzufragen und hinzuschauen“, erklärt Ausstellungsmacherin Anna Gomoluch. „Auch 66 Jahre nach Kriegsende entdecken wir immer wieder Spuren von Lebensgeschichten einzelner Personen oder ganzer Familien“, so Gomoluch weiter. „Oft sind es Familienangehörige, die über Zeugnisse der Vergangenheit stolperten. Mit diesen „Dachbodenfunden“ wenden sie sich dann an uns, die Gedenkstätten und Museen, damit ihre Familiengeschichte historisch und regional verankert werden kann.“

Was dann kommt, ähnelt einer aufwendigen Detektivarbeit. Mit Hilfe von Archiven werden Hinweise auf die Besitzer der Fundstücke gesucht. Die Dinge werden zum Teil einer Geschichte, die dann über das Schicksal Einzelner erzählen kann. Nicht immer führt diese Suche zu einem vollends befriedigenden Ergebnis. Das macht auch die Ausstellung deutlich. „Die Besucher sehen hier zunächst das, was wir als „verwischte Spuren“ bezeichnen“, erklärt Gomoluch. Es sind Objekte, die zwar keiner Biografie, dafür jedoch vielleicht einem spezifischen Ort zugeordnet werden können. Etwa ein von einem unbekannten sowjetischen Kriegsgefangenen gebasteltes Strohkästchen oder ein auf dem Gelände eines Gefangenenlagers gefundener Löffel. „Auch wenn wir neben diese Objekte keinen Namen schreiben können, sie erinnern doch an Einzelschicksale.“ Besonders stolz sei sie darauf, dass die Ausstellung keine diskutierten Muster präsentiere. „Hier geht es um den gemeinen Mann in Vermittlung und Forschung“, so Gomoluch. Dementsprechend finden sich unter den Biografien die gezeigt werden keine prominenten Namen.

Mit der Abteilung „Täter, Mitläufer, Zuschauer“ wirft die Ausstellung auch einen Blick auf diejenigen, die bei der Verfolgung und Vernichtung auf der Täterseite standen und in ihren verschiedenen Positionen durchaus unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten hatten. Im letzten Abschnitt „Leben mit der Erinnerung“ widmet sich die Ausstellung schließlich jenen Männern und Frauen, die in ihrer Zeitzeugenschaft eine besondere Aufgabe sahen oder bis heute unter den Verbrechen der Nationalsozialisten leiden.

Eine von ihnen ist Karla Raveh, die 1927 in Lemgo geboren und zusammen mit ihrer Familie im Juli 1942 zunächst nach Theresienstadt und schließlich nach Auschwitz deportiert wurde. Als einzige ihrer Familie verließ sie diesen Ort lebend, musste bis zur Befreiung durch die Amerikaner in einer Munitionsfabrik in Salzwedel Zwangsarbeit leisten. 1949 emigrierte sie zusammen mit ihrem Mann Szmuel nach Israel. 1983 nahm eine Lemgoer Lehrerin im Rahmen eines Schulprojekts zur Geschichte der Lemgoer Juden Kontakt mit ihr auf. Seitdem ist Karla Raveh als Zeitzeugin aktiv, besucht ihre Heimatstadt, die sie zur Ehrenbürgerin gemacht hat, jedes Jahr für mehrere Wochen. Auch sie ist zu einem Teil der Ausstellung über „Verwischte Spuren“ geworden. Besucher sehen Fotos, die sie zusammen mit ihrer Familie oder spielend mit anderen lemgoer Kindern zeigen.

„Die Ausstellung ist wichtig für die Menschen in Westfalen-Lippe“, sagt LWL-Direktor Dr. Wolfgang Kirsch. „Das Andenken an die Vergangenheit ist eine gute, wichtige Aufgabe und keine unangenehme Pflicht.“ Es gehe darum, die Erinnerung an das Unfassbare am Leben zu erhalten. Unfassbar seien vor allem die Zahlen der Opfer, die an dieser Stelle durch die Vermittlung der Einzelschicksale lebendig würden. Einzelschicksale wie die von Emma und Helene Terhoch, deren leeres Album nicht nur an die gelöschte Geschichte einer Familie, sondern auch an die Auslöschung einer ganzen Bevölkerungsgruppe erinnern kann.

Die Ausstellung „Verwischte Spuren“ ist noch bis zum 18. September 2011 im lemgoer Hexenbürgermeisterhaus zu sehen. Weitere Stationen sind das Stadtmuseum in Gütersloh, das Gustav-Lübke-Museum in Hamm, das Kreismuseum Wewelsburg, das Jüdische Museum in Dorsten, das Museum Höxter Corvey im Schloss Höxter, am Institut für Stadtgeschichte in Recklinghausen und im Museum Haus Martfeld in Schwelm.

Das Fotoalbum der Schwestern Emma und Helene Terhoch aus Drensteinfurt hat eine Nachbarin an sich genommen, als man die beiden Jüdinnen nach Riga deportierte. Aus Angst vor einer Hausdurchsuchung vernichtete sie den Inhalt und bewahrte lediglich den Umschlag auf. (Foto: Moritz Schäfer)

Karla Raveh wurde 1927 als zweitälteste Tochter von Walter Frenkel und seiner Frau Herta in Lemgo geboren. 1942 wurde die gesamte Familie Frenkel über Bielefeld in das KZ Theresienstadt gebracht. Von hier ging es 1944 weiter nach Auschwitz. Als einzige ihrer Familie verlies Karla Raveh diesen Ort lebend. Heute engagiert sie sich als Zeitzeugin, um vor allem jungen Menschen ihre Geschichte zu erzählen. (Foto: Moritz Schäfer)

Briefe des kleinen Joseph-Artur Schmerler, genannt Bubi, an seine schwester Susi. Nach Kriegsende hatte Susi Schmerler lange nach ihrer Familie gesucht. Vergeblich. Als Juden ohne deutsche Staatsangehörigkeit waren im Oktober 1938 an die polnische Grenze deportiert und dort interniert worden. Der junge Bibi starb vermutlich im Ghetto von Krakau.(Foto Exponat: Moritz Schäfer, Cultura. Foto rechts: Verein "Erinnern für die Zukunft e.V.", Bochum)

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