Zeitgeschichte, von Moritz Schäfer, 11.08.11

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“

Die umstrittene Geschichte eines symbolträchtigen Satzes

Eine Frau winkt über die Berliner Mauer in den Osten der Stadt hinüber. Fast drei Jahrzehnte trennte der Keil aus Beton Freunde und Familien. (Bild: Wiki Commons)

Ost-Berlin, 15. Juni 1961: Auf einer internationalen Pressekonferenz im „Haus der Ministerien“ haben sich über 300 Journalisten aus mehr als 30 Ländern versammelt. Walter Ulbricht, der Staats- und Parteichef der DDR, hat sie eingeladen. Es geht um die Situation in Berlin, wo Monat für Monat immer mehr Menschen aus dem sozialistischen Ost- in den demokratischen Westteil der Stadt flüchten.

Der Machthaber der DDR hält einen langen Vortrag, fordert unter anderem die Auflösung der Flüchtlingslager in West-Berlin. Außerdem solle der unklare Status der drei westlichen Sektoren beseitigt und eine eigenständige „Freie Stadt“ begründet werden. Die Journalisten reagieren enttäuscht: „Ulbricht spricht über eine Stunde und sagt nichts Neues“, notiert ein West-Berliner Journalist.

Die ersten Pressevertreter verlassen bereits den Saal, als der Pressechef des DDR-Ministerrates, Kurt Blecha, Fragen zulässt. Annemarie Doherr von der Frankfurter Rundschau nutzt die Gelegenheit. Sie fragt, ob die Bildung einer freien Stadt im Westen Berlins bedeuten würde, dass eine Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird und ob Ulbricht entschlossen sei, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen.

Ulbricht antwortet:  „Ich verstehe Ihre Frage so, dass es Menschen in Westdeutschland gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten, ja? Ääh, mir ist nicht bekannt, dass solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen, und ihre Arbeitskraft voll eingesetzt wird.“ Er schließt mit einem Satz, der in die Geschichte eingehen soll: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“

Keiner horcht auf als dieser Satz fällt. Keiner der westlichen Beobachter vermag sich vorzustellen, dass eine Großstadt wie Berlin von einer Mauer geteilt werden könnte. Man hält Ulbrichts Äußerung scheinbar für eine verunglückte Metapher. Doch Ulbricht wusste genau, wovon er sprach. Schon seit geraumer Zeit plante er, den Flüchtlingsstrom von Ost- nach West-Berlin mit einer befestigten Granze, die quer durch die Stadt verlaufen sollte, zu stoppen. Die Genehmigung des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow steht am 15. Juni jedoch noch aus.

Was brachte Ulbricht dazu, seinen verräterischen Satz zu äußern? Auch heute, ein halbes Jahrhundert später, ist die Antwort auf diese Frage umstritten. Mit dem runden Jahrestag des Mauerbaus häufen sich die neuen Veröffentlichungen zum Thema. Der Vorgeschichte des Baubeginns am 13. August 1961 und auch dem berühmten Satz von Ulbricht wird große Bedeutung beigemessen.

Als „Freudsche Fehlleistung“ etwa bewertet die amerikanische Deutschlandexpertin Hope Harrison die Äußerung Ulbrichts. Er habe seine Gedanken um den Bau der innerstädtischen Grenze ungewollt verraten. Bestärkt wird Harrisons These dadurch, dass vieles für eine intensive Beschäftigung Ulbrichts mit den Vorbereitungen der Absperrmaßnamen zu dieser Zeit spricht.

Dagegen steht die These, dass Ulbricht seinen Satz bewusst aussprach. Der Berliner Politikwissenschaftler Hannes Adomeit etwa kann sich das sehr gut vorstellen. Warum Ulbricht bewusst von einer Mauer gesprochen hat, dafür gäbe es laut Adomeit zwei entgegengesetzte Motive: Vorstellbar sei, dass Ulbricht die ostdeutsche Bevölkerung mit seiner kategorischen Aussage habe beruhigen wollen.

In diesem Fall allerdings hatte er keinen Erfolg, denn in der zweiten Junihälfte nahm die Zahl der Flüchtlinge noch einmal zu. Denkbar wäre auch, dass Ulbricht genau das erreichen wollte. Demnach könnte er mit seiner Bemerkung darauf gezielt haben, die Flüchtlingszahlen weiter in die Höhe zu treiben. Damit hätte er Druck auf Chrustschow ausgeübt, um die Genehmigung der Sowjetunion für die Grenzsperrung durchzudrücken. Adomeit traut dem SED-Chef scheinbar ein solches Kalkül zu.

Eine eindeutige Antwort auf die Frage, warum Ulbricht am 15. Juni 1961 von einer Mauer sprach erscheint unmöglich. Auch die Akten und privaten Papiere des SED-Chefs, heute überwiegend im Bundesarchiv in Berlin zugänglich, liefern keinen Beweis dafür, welche der zahlreichen Deutungen seines Satzes letztendlich richtig liegt.

Fest steht jedoch, dass im Juni 1961 niemand die Bedeutung des Satzes erfasste. Das änderte sich jedoch mit den Ereignissen knapp zwei Monate später, als in der Nacht vom 12. Auf den 13. August 1961 Straßen und Gleiswege nach West-Berlin abgeriegelt werden, Sowjetische Truppen in Gefechtsbereitschaft stehen und an den alliierten Grenzübergängen präsent sind. Der Bau der Mauer beginnt und die Bürger Berlins reagieren geschockt, müssen auf beiden Seiten hilflos mit anschauen, wie man ihre Stadt zerteilt. Die Mauer trennt Freunde, Familien, Liebende, treibt einen Keil in das Leben tausender Menschen.

Jetzt erinnert man sich im Westen an die Worte von Parteichef Ulbricht. Zusammen mit einem Foto von ihm werden sie zehntausendfach auf Plakate gedruckt und entlang der Mauer aufgestellt. Unzählige Postkarten mit gleichem Motiv werden produziert und als Flugblätter verteilt – bis in die DDR hinein. Ulbrichts Satz wird in der Welt bekannt und schließlich zum Symbol der Gewaltherrschaft in der DDR.

Eine Frau winkt über die Berliner Mauer in den Osten der Stadt hinüber. Fast drei Jahrzehnte trennte der Keil aus Beton Freunde und Familien. (Bild: Wiki Commons)

Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 auf der Pressekonferenz im „Haus der Ministerien“. Vor rund 300 Vertretern der internationalen Presse ist er es, der als erster das Wort "Mauer" im Kontext einer innerstädtischen Grenze verwendet. (Bild: Bundesarchiv, Bild 183-83911-0002 / CC-BY-SA)

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