Gegenwartskultur, Medien, Kultur überregional, von Melanie Wigger, 06.02.12

„Eine Richtung der Entwicklungen in der Region bleibt schwer vorherzusehen“

Zwischenbilanz des „Arabischen Frühlings“

Proteste in Ägypten Anfang 2011. Ein Junger Mann macht auf seinem Pappschild das Ziel deutlich: Protestieren bis zum Rücktritt Mubaraks. (Bild: Essam Scharaf, Quelle: Wiki Commons)

Anfang 2011 überrollte eine brisante Protestwelle den Nahen Osten, die noch im gleichen Jahr unter dem Begriff „Arabischer Frühling“ Geschichte geschrieben hat. Die Ereignisse in den arabischen Staaten gehören auch in diesem Jahr noch zu den wichtigsten Entwicklungen in der aktuellen Weltpolitik. Nach jahrzehntelanger Unterdrückung durch autoritäre Regime, bildete die Bevölkerung in vielen Staaten eine starke Opposition. Mit den schnellen Umstürzen infolge spontaner Massenaufstände in den Vorreiterstaaten Ägypten und Tunesien hatte wohl niemand gerechnet. Euphorie machte sich breit, die ganze Welt schaute auf diesen Erfolg. Es folgte eine Kette weiterer Proteste gegen die Unterdrückung durch die Regime. In Staaten wie Libyen, Jemen, Bahrain und Syrien zeigte sich jedoch bald, dass vergleichbare Massenproteste zu vollkommen unterschiedlichen Konsequenzen führen konnten. Jetzt, ein Jahr nach dem Beginn der drastischen Unruhen, wird klar, dass nicht alle Länder an den anfänglichen Erfolg anschließen werden. In weiten Teilen der Region sind gewaltsame Ausschreitungen durch Bürgerkriege sowie eine erneute Unterdrückung durch das Militär die Folge der Protestbewegungen.

Der Wissenschaftler Jan Hanrath von der Universität Duisburg-Essen hat sich im Rahmen seiner Forschung am Institut für Entwicklung und Frieden mit den Gründen für die unterschiedlichen Protestausgänge im Nahen Osten auseinandergesetzt. Der Ausdruck „Arabischer Frühling“ vermittelt den Eindruck, dass es sich bei den Revolutionsbewegungen in den einzelnen Staaten um eine zusammenhängende Entwicklung handelt. Hanraths Thesen zielen darauf, die Ursache der Protestwellen nicht als einen Dominoeffekt zu vereinfachen. Denn die politischen Revolutionen der einzelnen Staaten unterscheiden sich deutlich voneinander. Der arabischen Region wird von außen oft ein einheitliches, meist islamisch geprägtes Gesamtbild zugeschrieben, doch Hanrath hat die einzelnen Staaten genauer unter die Lupe genommen und dabei neben Gemeinsamkeiten auch große Unterschiede festgestellt. Sein Fazit: „Gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch bildet die Region keine Einheit.“ Das Verhältnis von Größe und Bevölkerungsdichte der Länder variiert stark. Wirtschaftlich verglichen befinden sich die arabischen Staaten in einer großen Arm-Reich-Schere. Zudem stoßen verschiedene Regierungsformen aufeinander – von Republiken bis zu Monarchien, deren staatspolitische Orientierungen das Spektrum zwischen sozialistisch bis nationalistisch abdecken. Die Herrschenden können sowohl der Mehrheit als auch einer Minderheit aus der meist vielschichtigen Bevölkerung angehören.

Dennoch räumt Hanrath auch den Gemeinsamkeiten eine tragende Rolle für die Entwicklung der arabischen Revolutionen ein. Allem voran steht das Demokratiedefizit: „Keine Region der Welt hat sich in der Vergangenheit so nachhaltig einem allgemeinen Trend zur Demokratisierung widersetzt“, erklärt Hanrath. Infolgedessen leiden viele Menschen unter der staatlichen Unterdrückung und den eingeschränkten Menschenrechten. Jahrelang können die Regime durch Korruption und Gewalt jahrelang ihre Macht sichern, die Bürger stehen der ungerechten Staatspolitik oft hilflos gegenüber.

Ein anderes Problem in weiten Teilen der Region besteht im Anstieg der Arbeitslosigkeit junger Menschen. Das betrifft insbesondere die Mittelschicht. Durch kostenlose Hochschulzugänge und eine unhaltbare Jobgarantie seitens des Regimes gibt es eine breite Bevölkerungsschicht mit Studienabschlüssen und ohne berufliche Aussichten. Auch diesen Umstand diagnostiziert Hanrath als einen wichtigen Faktor für die Unruhen.

Dazu kommt, dass sich neben den gemeinsamen Problemen in den vergangenen Jahren, die nahöstliche Bevölkerung in ihrer arabischen Identität neu definieren konnte. Neben ihren historisch und kulturell ähnlichen Wurzeln wurde vor allem in neuerer Zeit ein gesellschaftliches Zusammenwachsen gefördert. Hanrath belegt dies am Erfolg nahöstlicher Medien: „Sender wie Al Jazeera tragen in hohem Maße zum Entstehen eines Gemeinschaftsgefühl und einer neuen arabischen Öffentlichkeit bei.“

Trotz dieser Gemeinschaft spricht der Wissenschaftler nicht von einem „gesamtarabischen Projekt“, wie es mit dem Ausdruck „Arabischer Frühling“ häufig unterstellt wird. Die Revolutionen sind national geprägt und abhängig von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen der jeweiligen Staaten. Hanrath meint: „Man kann nicht sagen, dass die eine Revolution ursächlich für Aufstände im nächsten Land ist. Aber der Erfolg dient durchaus als Inspiration für andere Bewegungen, es finden Lernprozesse statt und teilweise gibt es auch grenzüberschreitenden Austausch zwischen Aktivisten.“ Einer dieser Lernprozesse zeige sich in der spontanen Mobilisierung der Massen.

Unter dem Verzicht von Gewalt und mit der Anwendung demokratischer Strukturen zur Organisation der Gegenbewegung entsteht eine wirksame Kraft. Im Dienste der Revolution konnten sich sogar ganz unterschiedliche Bevölkerungsgruppen vereinen. Bildung, Berufsgruppe, Geschlecht, städtische oder ländliche Herkunft, Alter, Religion und politische Orientierungen wurden im Kampf für die gemeinsame Sache belanglos.

Auf Grundlage des Zusammenspiels von Gemeinsamkeiten und Unterschieden kommt Hanrath zu folgendem Schluss: „Es bleibt schwer vorherzusehen, welche Richtung die Entwicklungen in der Region einschlagen werden. Auch in Tunesien und Ägypten hat die Revolution noch nicht gesiegt.“ Auch ein Jahr nach den Erfolgen der beiden Vorreiter gibt es noch keine Garantie auf ein demokratisches System in der Zukunft. Hanrath kann sich vorstellen, dass in Zukunft veränderte Regimeformen in der Region entstehen, die weiterhin autoritäre Strukturen in unterschiedlichem Ausmaß ausüben. Allerdings ist der Forscher ebenfalls der Meinung, dass es nach den Revolutionen keine Rückkehr in erstarrte Herrschaftsformen geben werde. Der „Arabische Frühling“ signalisiert also trotz aller Rückschläge ein neues Zeitalter für den Nahen Osten.

Proteste in Ägypten Anfang 2011. Ein Junger Mann macht auf seinem Pappschild das Ziel deutlich: Protestieren bis zum Rücktritt Mubaraks. (Bild: Essam Scharaf, Quelle: Wiki Commons)

Zentrum der regimekritischen Bewegung gegen Präsident Mubarak: Der Tahrir Platz - Platz der Befreiung - im Zentrum Kairos. (Bild: Jonathan Rashad, Quelle: Wiki Commons)

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