Geschichte, Medien, von Nadine Hoffmann, 05.03.12

"Wir dachten, das sei ein toter Bergsteiger!"

Ötzis Entdeckung vor 20 Jahren und seine Rolle für die Forschung

"Der Mann aus dem Eis" wird untersucht. (© South Tyrol Museum of Archaeology, EURAC, Samadelli, Staschitz)

1991 fanden Urlauber im Hochgebirge der Ötztaler Alpen die Leiche eines Mannes, der zur Weltsensation wurde: Ötzi. Kein archäologischer Fund hatte zuvor ein solches Medieninteresse ausgelöst wie der Unbekannte aus dem Eis. Bis heute, 20 Jahre später, ist die Gletschermumie, die offiziell „Der Mann aus dem Eis „ – „L’Uomo venuto dal ghiaccio“ heißt, die wohl bekannteste Mumie der Welt.

„Wir dachten, das sei ein toter Bergsteiger“ so Erika Simon, die auf einer gemeinsamen Wanderung mit ihrem Mann Helmut über den sensationellen Fund „stolperte“. Ein nicht ganz abwegiger Gedanke, wenn man in den Alpen unterwegs ist und eine Leiche entdeckt. Wer rechnet auch schon damit, einen archäologischen Sensationsfund zu machen? Ein Fund, der weltweit neue Informationen auf unsere Vorgeschichte liefert. Denn nie zuvor wurde eine derart gut erhaltene und konservierte Mumie mit Kleidungs- und Ausrüstungsgegenständen, die zudem noch ein so hohes Alter aufweist, gefunden.

Dass in den ersten Tagen nach dem Fund noch keiner ahnte, welche Sensation man hier aus dem Eis befreite, zeigt die Art und Weise der Bergung. Mit einem Pressluftmeißel versuchte man die Leiche freizulegen, wobei die linke Hüfte beschädigt wurde. Die losen Funde wurden in einem Plastikmüllsack zusammengepackt. Auf die Idee einen Archäologen mit einzubeziehen kam man gar nicht. Das geschah erst sechs Tage nach der Sicherung des Leichnams, kurz bevor die Gerichtsmedizin die Leiche freigeben sollte. Erst jetzt wurde deutlich, was man da aus dem Eis geborgen hatte. Ötzi – seinen Namen bekam die Mumie vom Wiener Reporter Karl Wendle („Diese ausgetrocknete, grässlich anzusehende Leiche muss lieblicher werden, um daraus eine gute Story zu machen“) – war älter als angenommen. Die nun anlaufenden Untersuchungen lieferten die Beweise: Ötzi lebte zwischen 3350 und 3100 v. Chr., also vor mehr als 5.000 Jahren. Ein Mann aus der Jungsteinzeit!

Zu seiner Lebzeit wurde Kupfer als neuer Werkstoff eingeführt und bedingte einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel in der Gesellschaft. (Ötzi trug beispielsweise ein Beil bei sich, das fast aus reinem Kupfer besteht.) Es entstanden neue Berufsfelder, die zu einer Differenzierung in der Gesellschaft führte. Da sich nur Wohlhabende die Gegenstände aus Kupfer leisten konnten, waren sie ein Symbol für Reichtum und Macht. Die großen Kupfervorkommen im Alpenraum führten zu einer Besiedelung der Gebirgsregion, wo auch Ötzi lebte. Anhand seines Zahnschmelzes konnte nachgewiesen werden, dass er die ersten Lebensjahre wahrscheinlich im Eisacktal, die letzten 10 Jahre seines Lebens im Vinschgau gelebt hat. Das Beil ist Indiz für eine angesehene Stellung innerhalb der Gemeinschaft, in der er lebte.

Das Außergewöhnliche an dem Mann aus dem Eis ist neben dem historischen Alter, die Art der Mumifizierung. Es handelt sich um eine Feuchtmumie, in deren Zellen Feuchtigkeit gespeichert ist, wodurch das Körpergewebe elastisch bleibt, was verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen erst möglich macht. Zudem ist Ötzi in seiner kompletten Bekleidung und Ausrüstung aufgefunden worden. Schnell gesellte sich ein Mythos zur Sensation: Personen, die bei der Bergung oder den Untersuchungen eine Rolle gespielt hatten, kamen ums Leben. Die Theorie des „Ötzi-Fluchs“ war geboren, die Mediensensation perfekt.

Dabei ist die Mumie allein schon eine wissenschaftlich-archäologische Sensation, die uns über Leben, Nahrung, Kleidung, Krankheiten, Anatomie vor mehr als 5000 Jahren Informationen liefert; Erkenntnisse über unsere frühste Vergangenheit und unsere Herkunft als Mensch. Dennoch hatte und hat das Medieninteresse, das dem Mann aus dem Eis zuteilwurde, auch positive Auswirkungen auf die Forschung. So wurde beispielsweise ein Forschungsinstitut für Alpine Vorzeit gegründet um die vielen Fragen der Medien beantworten zu können, ohne dabei die Bedürfnisse der Forschung zu vernachlässigen. Wie und wann starb er? Wie sah er aus? Wie lebte er? Was sagt seine Bekleidung und seine Ausrüstung über sein Leben aus?

Es ist unbestritten, dass die Klärung eben dieser Fragen großartige wissenschaftliche Leistungen darstellen. Was aber oft übersehen wird, ist die komplexe Art und Weise, auf der dies geschieht. Noch immer werden weitere Details erforscht. So konnte erst vor 10 Jahren die Todesursache geklärt werden – und bis heute treten immer mehr Details ans Licht. Neben der Anwendung der neusten Technik- und Forschungsmethoden im Bereich der medizinischen, paläopathologischen, forensischen und klimatischen Forschung ist die Arbeit an der Mumie ein einzigartiges Beispiel für die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Das dies immer neue Ergebnisse zutage bringt kann anhand der Erforschung der Todesursache dargestellt werden. 2001 hat der Radiologe Paul Gostner entdeckt, dass Ötzi ermordet wurde; 2003 konnte mittels nicht verheilter Schnittwunden in seiner Hand nachgewiesen werden, dass er vor seinem Tod in Kampfhandlungen verwickelt war; 2006/2007 wurde die Todesursache diagnostiziert: Ötzi starb an Verblutungen, hervorgerufen durch eine Pfeilspitze, die die Ateria subclavia in seiner Schulter durchschlug; 2007 wurde mithilfe einer neuen radiologischen Aufnahme eine neue Theorie zum Todeshergang erstellt: Hirntrauma und Kopfverletzung; 2009 konnte das Institut für Botanik der Universität Innsbruck für den Todeszeitpunkt Ötzis den Frühsommer festlegen; und im letzten Jahr schließlich ermöglichte der Fund von Blutzellen die Festlegung der DNA. 

Zurzeit läuft unter anderem ein Projekt, das den gesamten Körper der Mumie via Fotoscan erfassen soll. Der Körper kann aus 12 verschiedenen Blickwinkeln zugänglich gemacht werden, eine Zoomfunktion ermöglicht wenige Millimeter große Detailansichten. Dies dient der Forschung, da die Konservierungsbedingungen der Mumie besondere Umstände erfordern. Die Bedingungen des Gletschereises müssen simuliert, eine Temperatur von -6°C und eine relative Luftfeuchtigkeit von 98% gehalten werden. Damit Ötzi auch einem breiten öffentlichen Publikum gezeigt werden kann, wurde ein ausgeklügeltes Kühlsystem entwickelt, bei dem „unzählige Sonden verschiedene Messwerte wie Luftdruck, Temperatur, relative Luftfeuchtigkeit, Luftzusammensetzung, Körpergewicht und die Daten des Kühlsystems übermittelt, um einer Austrocknung der Mumie entgegenzuwirken. Dies bedeutet aber auch, dass eine Betrachtung der Mumie aus der Nähe für ein breites Publikum nicht gewährleistet werden kann. Diesem Manko soll das Iceman Fotoscan entgegenwirken und den Besuchern die Möglichkeit geben, eine einzigartige Entdeckung und wahrscheinlich auch ein einzigartiges Kulturgut unsere Welt zu entdecken und zu studieren.

Nun kann man sich Fragen, warum überhaupt soviel an der Mumie geforscht wird, es kostet ja schließlich alles Geld. Es ist ja schön und gut, dass man nun über die Todesursache Bescheid weiß, irgendwann kann es aber doch nichts Neues geben. Irrtum! Dank Ötzi können Forscher nicht nur unsere Vergangenheit rekonstruieren und darstellen, wie unsere Vorfahren vor Tausenden von Jahren gelebt haben. Der Mann aus dem Eis liefert auch Ergebnisse, die für uns heute von Bedeutung sein können. Dank Ötzi und der Forschung an seiner Mumie können die Entstehungen von organischen Besonderheiten oder auch Krankheiten von heute erforscht werden. Darüber hinaus bietet die Arbeit die Möglichkeit, neue Instrumentarien in der Diagnostik zu entwickeln. Ebenso können Aussagen über die Klimaentwicklung getroffen werden. Ötzi hat unzählige Forschungsdisziplinen zu andernfalls unmöglichen Einblicken verholfen.

Aus diesem Grunde ist es evident, nicht aufzuhören zu fragen, und diese Fragen mithilfe der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen zu klären zu versuchen. Da sich auch die Forschung selbst immer weiter entwickelt, neue Technik zu immer neuen Diagnosen und Ergebnissen führen kann, sollte dir Erforschung nicht „eingefroren“ werden. Wer weiß, welche Sensation der Mann aus dem Eis noch in sich birgt.

"Der Mann aus dem Eis" wird untersucht. (© South Tyrol Museum of Archaeology, EURAC, Samadelli, Staschitz)

So sah er aus. Auf Grundlage der Überreste konnte diese Rekonstruktion des Ötzis angeferigt werden. (© South Tyrol Museum of Archaeology, Foto Ochsenreiter, Reconstruction by Kennis)

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