Weihnachtsschmuck in chinesischen Restaurants und Läden, das gibt es erst seit wenigen Jahren, meint Jonas Polfuß. Der Sinologie-Doktorand (Chinakunde) verweilt zur Zeit in Peking. Schon früher hat er das Nebeneinander der verschiedenen Kulturen und ihrer Feste wahrgenommen. Noch immer jedoch wundert er sich über die Formen, die ein solches Nebeneinander annehmen kann. „Es gibt Aufkleber mit Weihnachtsmännern, die rote Frauenlippen und eher weibliche Wimpern haben“ sagt Polfuß. Das Weihnachtsfest, feste Instanz des westlichen Kalenders, hat seinen Platz im chinesischen Alltag gefunden. Aber wie sieht es im Westen aus? Ein Blick nach Deutschland. Von den Festen des chinesischen Kalenders ist hier recht wenig wahrzunehmen. Dabei steht das bedeutendste Ereignis des Jahres kurz vor Tür: Das chinesische Neujahr. Wer sich jedoch nicht ausdrücklich für diese fernöstliche Zeitrechnung interessiert, merkt nicht, dass das Leben eines Großteils der Menschheit nach mehreren Kalendern „tickt“.
Das Phänomen 'Kalender' als solches ist eine Universalie, denn Zeitrechnungen sind in allen Kulturen entstanden. Ob in Stein gemeißelt oder als lebendige Riten weitergegeben, so ging es bei allen Kalendern letztlich um das Planen sozialer Abläufe. Wann wird gesät, wann geerntet, wann wird geheiratet – solch lebensnahe Fragen haben die Form aller Kalender grundlegend beeinflusst.
Verschiedene Antworten auf diese Art Fragen sind es zugleich, die zu Unterschieden zwischen den Kalendern der Kulturkreise geführt haben. Denn trotz grundsätzlich gleicher astronomischer Voraussetzungen -365 Tage dauert die Umrundung der Sonne, etwa 29,5 Tage ein Umlauf des Mondes um die Erde- entstanden Kalender unterschiedlicher Länge. So war es in Ägypten vor allem der jährliche Anstieg des Nils der das Leben der Menschen bestimmte, und dadurch zeitlich ordnete. Als Folge der höher steigenden Sonne und der damit einsetzenden Schneeschmelze brachte das jährliche Nilhochwasser Leben in das trockene Land. Entsprechend orientierte man sich in Ägypten schon früh am Sonnenjahr.
Die meisten Kalender der Antike basieren jedoch auf den Mondumläufen, so auch der chinesische. In dieser über 4000 Jahre zählenden Zeitrechnung bestimmt der zweite Neumond nach der Wintersonnenwende, also ein Datum in 'unserem' späten Januar oder frühen Februar, den Beginn eines neuen Jahres. Da die zwölf Monate des chinesischen Jahres allerdings nur 30 Tage zählen, fällt das Neujahrsfest immer auf ein anderes Datum in dem -uns vertrauten- gregorianischen Kalender, der seinerseits erst 1912 offiziell in China eingeführt wurde.
Seit einigen Jahrhunderten hat sich die Herrschaft des gregorianischen Kalenders stetig ausgebreitet - wobei 'herrschen' hier härter klingen mag als es sich für den einzelnen Betroffenen zunächst anfühlt. Doch beschreibt der Begriff durchaus das eigentliche Ausmaß der kulturellen Einflussnahme. Denn, so ist man sich in der Wissenschaft weitgehend einig, Zeitrechnung hat schon immer auch etwas mit Machtausübung zu tun gehabt. Wenn die europäischen Kolonisatoren der Neuzeit ihren Kalender in andere Erdteile hineintrugen, so brachten sie die dort lebende Bevölkerung nicht bloß zum Annehmen oder Auswechseln einer Jahreszahl. Nach dem westlichen Kalender zu leben, das hieß auch, Christi Geburt als den Anfang der eigenen Zeitrechnung zu verstehen. Es bedeutete die -zumindest implizite- Beeinflussung einer Kultur durch die christliche Lehre.
Dort, wo ein Kalender von einer nur relativ kleinen Gemeinschaft gelebt und weitergeführt wird, muss man auch heute noch fürchten, dass jener über kurz oder lang einer globalen Zeitrechnung weichen muss. Nicht nur die materiellen Produkte der westlichen Industriestaaten dringen bis in letzten Winkel der Welt vor- auch die zeitliche Taktung des globalen Marktes der sie vertreibt. Die Auswirkungen auf die kulturelle Lebenswelt zeigen sich im Aussterben von Festen, Riten und Alltagspraktiken. Genau dazu ein Gegengewicht aufzustellen hat sich die UNESCO-Konvention zum Schutz des „immateriellen Kulturerbes“ zum Ziel gemacht. Das Übereinkommen aus dem Jahr 2003 schützt eben solche nicht greifbaren Elemente einer Kultur die auch das eigentliche Wesen eines Kalenders ausmachen. So steht auf der Kulturerbe-Liste dieser Konvention ein jährlicher Markt im Südwesten Marokkos, das sogenante „Moussem von Tan-Tan“, oder aber auch die religiös-künstlerischen Darbietungen „Ramlila“ zum indischen Dashahara-Fest. Denn, um das Konstrukt 'Kalender' zu schützen, dazu muss letztlich das konkrete Ausüben einer Kultur am Leben erhalten werden.
Um den Erhalt des chinesischen Neujahrsfestes indes braucht sich niemand zu sorgen. Trotz des Siegesfeldzuges den der westliche Kalender vor Jahrhunderten angetreten ist, feiern auch dieses Jahr viele Millionen Menschen am 3. Februar das chinesische Neujahr. Die kulturelle Praxis zeigt, nicht nur in diesem Fall, dass verschiedene Zeitrechnungen durchaus gut nebeneinander existieren können. „In China selber werden die Kalender fast reibungslos parallel verwendet“, so Dr. Michael Leibold vom Lehrstuhl für Sinologie der Universität Würzburg. Während man sich im öffentlichen Bereich nach dem westlichen Kalender orientiere, spiele der traditionelle Mondkalender im privaten, familiären Bereich die primäre Rolle.
Dass die chinesischen Feste in den kommenden Jahren auch in Deutschland präsenter in der öffentlichen Wahrnehmung werden, das findet Dr. Leibold angesichts der steigenden Zahl chinesischer Mitbürger durchaus vorstellbar. Vielleicht landen dann auch hierzulande die kreativen Produkte kultureller Vermischung in den Läden, ganz im Stil der femininen Weihnachtmänner. Phänomene dieser Art seien jedoch keinesfalls ein Indikator für Integration versichert der Sinologe. Dafür brauche es schon wahre Teilhabe an einer Kultur, nicht nur Symbole. Seiner Einschätzung nach wird es aber ohnehin noch eine ganze Weile dauern bis in Deutschland auch zum chinesischen Neujahr die Raketen steigen. „Für ein zweites Neujahrsfest“, so meint Leibold, „müssen wir noch ein bisschen üben“.
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